Mehr als nur Worte – [Über das Poetische]
„Was macht eine verbale Botschaft zum Kunstwerk?“ (Roman Jakobson)
Der Linguist Roman Jakobson (1896–1982) unterscheidet in der zwischenmenschlichen Kommunikation sechs verschiedene Sprachfunktionen. Die für ihn wichtigste Funktion ist die poetische, durch die Sprache „in ihrer formalen Erscheinung zu einer Art besonderer Info-rmation wird.“ Poetische Sprache lebt von Konnotationen und Mehrdeutigkeit, ergänzt die Darstellung von etwas um Klang und Rhythmus und stellt die Form über den Inhalt. Poetische Sprache ist (noch nicht) Dichtung. Bereits wenn Wörter bewusst in ihrer ästhetischen und klanglichen Dimension wahrgenommen werden, wenn sie nicht nur als praktisches Komm-unikationselement verstanden werden, ist die poetische Sprachfunktion am Werk.Mehr als nur Worte [Über das Poetische] erhebt die Idee der poetischen Funktion zum Ausgangspunkt für gedankliche Ausdrucksmöglichkeiten jenseits semantischer Eindeutigkeit. Im Blickpunkt steht eine Sprache der morphologischen Ungewissheiten und der unendlichen Hermeneutik. Zu entdecken ist sie in Filmen, Fotografien, Skulpturen, Installationen und Performances, die sich in ein avantgardistisches Display einfügen, das sich wie eine Visualisierung von Silben im Raum lesen lässt.
Sprache ist mehr als Worte und auch das Wort ist mehr als eine bloße Aneinanderreihung von Buchstaben. Der amerikanische Konzeptkünstler John Baldessari führt auf die richtige Fährte, wenn er aufzeigt, welch hintergründiger Witz der künstlerischen Auseinandersetzung mit Sprache/Poesie innewohnt: In Teaching a Plant the Alphabet (1972) sehen wir die Hand des Künstlers, wie sie einer Topfpflanze nach und nach Lernkarten mit dem Alphabet vorhält. Jeder einzelne Buchstabe wird in Groß- und Kleinschreibung und mit diversen Wortbeispielen visuell vermittelt.Neben der Verbindung von Kunst und Sprache und der Bildwerdung von Schrift, welche die Kunst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts prägt, steht vor allem das Interesse an einer Sprache, die sich der algorithmischen Verwertung und einfachen Über-setzbarkeit entzieht. Eine Sprache, die auf eine Abfolge von Codes ausgerichtet ist, aber weder geschrieben noch gesprochen wird, verwendet Elisabetta Benassi in ihrer Arbeit Finalmente solo, finalmente tutti (2013): Zwei Morselampen stehen einander in einem dunklen Raum gegenüber. Abwechselnd senden sie durch Auf- und Abblenden Signale, die als Abfolge von Buchstaben entziffert werden können. Der so übertrage Text stammt von Mario Merz und ist seinem Buch Voglio fare subito un libro (Ich möchte sofort ein Buch machen) entnommen.
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Wenn João Maria Gusmão und Pedro Paiva in ihrem 16mm Film Glossolalia (2014) einen Papagei langsam seine Flügel spreizen, sich drehen und den Schnabel öffnen lassen, ist der/die Betrachter/in in gespannter Erwartung. Doch mit dem Öffnen des Schnabels endet der (Stumm-)Film und lässt uns mit der Frage zurück: Welche Sprache spricht ein sprechender Papagei? Nicht nur die Stimme, auch und vor allem Gesten vermitteln dieses „mehr als nur Worte“: Bruno Munaris Sammlung von Gesten im Supplemento al dizionario italiano – I Gesti (1958) zeigt Fotos von rund fünfzig Handbewegungen, ergänzt um deren Anwendung und Bedeutung. Ketty La Roccas Fotoserie Le mie parole, e tu? (1974) zeigt ebenfalls Hände als Ausdrucksträger und Symbol des Körpers. Anders als bei Munari, wo Handzeichen als Form der Kommunikation auf ein intuitives Verständnis abzielen, sind es bei Ketty La Rocca Hände, auf die Worte und Sätze appliziert sind – Hände, in die sich Sprache sprichwörtlich einschreibt. Fast ein Jahr lang arbeitete die Künstlerin Erica Scourti an ihrem Projekt Life in AdWords (2012/13). Sie erstellte ein digitales Tagebuch, in dem sie sich mit der Webcam ihres Compu-ters täglich dabei filmte, wie sie von einem Algorithmus erzeugte Keywords, wie einen Word-rap vorträgt. Die vorgeschlagenen Worte ergaben sich aus personalisierter Werbung, die ihr als Reaktion auf ihr digitales Tagebuch vorgeschlagen wurde. So wurde täglich eine lange Liste an Objekten, Marken, emotionalen Zuständen und Wünschen kreiert.
Auch performative Elemente prägen die Ausstellung, so etwa Jason Dodges Skulptur Rose light to white light to rose light over and over by hand, die während der Dauer der Ausstellung an unterschiedlichen Tagen die existierenden Neonröhren im Raum durch rosafarbene Röhren austauschen lässt, um diese dann wiederum durch die ursprünglichen zu ersetzen. Diese Arbeit führt vor Augen, wie sich allein durch den Wechsel des Lichts, die Wahrnehmung verän-dert. Eine punktuelle Wahrnehmungsverschiebung nimmt auch Fernando Ortegas Tran-scription vor. Ortega hat das Summen einer Mücke in eine Komposition übersetzt, die von einem Violinisten an unterschiedlichen und nicht vorab bekanntgegebenen Tagen in der Ausstellung gespielt wird. Poesie ist sprachlicher Überschuss. Es ist eine Sprache, die sich der Logik der effektiven Sinnstiftung und des funktionalen Zeichenaustauschs widersetzt. Eine Sprache, die sich der Logik ökonomischer Abstraktion und den Regeln des Pragmatismus entzieht. Kombinationen von semiotisch befreiten Silben und Wörtern, die spielerisch Be-deutung erzeugen, überspringen, vermischen. „Poesie muss von allen gemacht werden“, verkündete der Comte de Lautréamont bereits 1870: ein kollektiver Akt, der sich auch im Format Ausstellung als Zusammenspiel der Werke und ihrer Aufführung, im Solo und als Ensemble widerspiegelt. [Kunsthalle Wien. Kuratiert von Luca Lo Pinto und Vanessa Joan Müller. Ausstellungsdauer: 8. März bis 7. Mai 2017 – Foto Kunsthalle Wien]
Künstler/innen: John Baldessari, Elisabetta Benassi, Nina Canell, Natalie Czech, Michael Dean, Jason Dodge, João Maria Gusmão / Pedro Paiva, Ketty La Rocca, Bruno Munari, Olaf Nicolai, Fernando Ortega, Jenny Perlin, Gerhard Rühm, Olve Sande, Erica Scourti, Michael Snow, Mladen Stilinović, Artur Żmijewski
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