COMPLEMENTARY CONVERSATIONS – KADER ATTIA

History-of-Reappropriation„Polarisierungen, Extreme, Ambivalenzen, Tag vs. Nacht, Fülle vs. Leere, Leben vs. Tod – alles im Universum ist dazu bestimmt, von seinem Gegenteil unterschieden zu werden. Dennoch teilt alles eine Ähnlichkeit, die es mit dem jeweiligen Paradoxon verbindet: nämlich die Differenz. Diese einander ergänzenden Gespr-äche sagen mehr über die Ordnung der Dinge aus als eine Polarisierung, in der Extreme isoliert betrachtet werden. Vom Metaphysischen zum Gegen-ständlichen und vom Universellen zum Partikularen – das menschliche Denken wird von Differenzen gezeichnet, welche die Dinge mehr bestimmen als unterscheiden. Diese Differenzen bilden das Räderwerk, das alles zusammenhält. Seit Immanuel Kant ist bekannt, dass das Denken durch einen Mechanismus angetrieben wird, der die Beziehung zwischen einem Gegenstand und einem Gedanken aufdeckt. Nehmen wir als Beispiel ein Glas. Ich weiß, dass dieses leere Glas ein Glas ist, aber dieses wiederum weiß es natürlich nicht. Wäre ich aber dennoch imstande, dieses Glas in mir oder an sich zu denken? Nein. Denn ich weiß, dass dieses Glas ein Glas ist, durch die Verbindung, die zwischen diesem Gegenstand, dem Glas und meinem Denken besteht. Es ist eine Art experimentelle Verbindung, die in einem Zwei-Weg-Dialog stattfindet. Kant nennt diese Verbindung „Korrelation“. Seither wird dieses Postulat nicht in Frage gestellt, es sei denn, es wird mit anderen Eigenschaftsworten ausgestattet, wie dies Maurice Merleau-Ponty in seiner „Phänomenologie der Wahrnehmung“ tut … Was junge Menschen aus verschiedenen Kulturen und mit unterschiedlichem Hintergrund unter einem Spielplatz verstehen, variiert je nach Verständnis der Realität (sowohl Raum als auch Zeit betreffend), die eine Gruppe teilt und zwar unterhalb und jenseits der virtuellen Grenze, welche die jeweiligen Welten im Spiel teilen. Was in diesen komplementären Gesprächen auf dem Spiel steht, wie z. B. bei einem Fußballspiel zwischen römischen Ruinen oder bei der Hinrichtung von Soldaten in einem Online-Spiel, ist die Schaffung von verschiedenen spekulativen Realitäten, wobei eine Seite den Boden verliert. In beiden Fällen ist es möglich, zwei konkrete Gegenstände an sich selbst zu denken – den römischen Bogen und den virtuellen Feind, der nichts anderes ist als das Spiegelbild ähnlicher Gegner, die durch das digitale Netzwerk miteinander verbunden sind, wobei es sich hier um eine korrelierende Erfahrung par excellence handelt. Wie der Philosoph Quentin Meillassoux in „After Finitude“ festhält, ist das Denken also ein in sich geschlossener Gegenstand (jenseits jeglicher Korrelation), eine notwendige Möglichkeit. In einer Welt, in der die Digitalisierung des Wissens und die Möglichkeiten der Aneignung des Wissens durch eine auf binärer Interpretation beruhenden Ordnung der Dinge bestimmt werden, ist der Verlust der Kontrolle über diese Formen von Wissen eine ganz entscheidende Frage. Wenn es stimmt, dass der Zugang zu Wissen, wie er immer bestand, kein einfacher Weg ist, so erweist er sich als Weg zu einer bewussten oder unbewussten Erfahrung. Der Ursprung von vielen Erfindungen, Emotionen, Intuitionen oder Revolutionen begründet sich in Fehltritten. Spaziert man durch eine Bibliothek, so sind Bücher immer schon Wegzeichen gewesen, die uns von Punkt A zu Punkt B leiten, uns zu „Schätzen“ führen. Die Aufstellung von Büchern in einer Bibliothek ist nicht so sehr eine Sache von menschlicher Organisation als vielmehr von Desorganisation. Wenn man zum Beispiel ein Buch, das man gerade betrachtet hat, nicht an den richtigen Platz zurückstellt. Dies ist der Hauptunterschied zur Organisation von Wissen im Internet. Eine Seite, die gerade gelesen worden ist, geht nicht nur an ihre vorherige Stelle zurück, eine künstliche Intelligenz drängt sich einem auf, indem sie Algorithmen befolgt, die man nicht kontrollieren kann.  Im Film ‚Citizen 4‘ spricht Edward Snowden ganz deutlich die Tatsache an, dass das Internet ursprünglich einem riesigen freien Territorium glich, welches sehr schnell von Konzernen übernommen wurde, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht riesige Datenbanken von Milliarden persönlicher Daten sammeln konnten. Sobald man seine Kreditkarte oder sein Mobiltelefon benützt, wird man beobachtet. Was würde passieren, wenn nach Jahrzehnten globaler Digitalisierung die ganze Welt nur noch digitale Daten verwenden würde? Dieser Tag wird früher oder später anbrechen und künftige Generationen werden von künstlicher Intelligenz geprägt sein. Den konkreten Gegenstand an sich zu denken ist dann vielleicht der frühe, aber auch letzte Atem des Lebens, der den menschlichen Geist aufschreien lässt, bevor er ganz verschwindet…“ so Kader Attia.

Kader Attia wurde 1970 in Frankreich geboren und ist in Algerien und in den Vororten von Paris aufgewachsen. Seine Erfahrungen vom Leben in zwei Kulturen bilden den Ursprung zur Entwicklung einer dynamischen Praxis, welche die Ästhetik und Ethik der verschiedenen Kulturen widerspiegelt. Mit einer poetischen und symbolischen Herangehensweise an die breitgefächerten Auswirkungen der modernen westlichen Vorherrschaft und des Kolonialismus auf nicht-westliche Kulturen, untersucht Attia die Identität und die Politik historischer und kolonialer Gebiete und erstellt von der Tradition zur Moderne, im Licht der globalisierten Welt seine eigene Genealogie. Seit einigen Jahren konzentriert sich seine Forschung auf das Konzept des In-Stand-Setzens als einen festen Bestandteil der menschlichen Natur, welches im Verständnis der an der westlichen Moderne orientierten Kulturen eine ganz andere Rolle spielt als im Verständnis der traditionellen außerabendländischen Kulturen. Von der Kultur zur Natur, vom Genus zur Architektur, von der Wissenschaft zur Philosophie, jedes System des Lebens ist ein unendlicher Prozess des Reparierens. Ausstellungsdauer:16. Mai 2015 (Foto: Galerie krinzinger)

DAS KUNSTMAGAZIN
KUNSTINVESTOR Nr. IV
Ausgabe APRIL 2015
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