MARIO GIACOMELLI – GEGEN DIE ZEIT

07_GIACOMELLIUnverwechselbar und von fast schmerzlicher Inten-sität sind die Bilder von Mario Giacomelli (1925-2000), einem der inter-national bekannt-esten italienischen Fotografen der Nachkriegszeit. Ange-regt durch das Kino des Neorealismo wandte sich der bis dato mit Malerei und Literatur experiment-ierende gelernte Schrift-setzer und Drucker in den 1950er-Jahren der Foto-grafie zu und entwickelte eine höchst eigenständige, von grafischer Abstraktion geprägte Bildsprache. Seine nahezu ausnahmslos in Serien konzipierten Arbeiten verbinden Elemente der Reportage mit lyrischer Subjektivität und einer zeichenhaften, in ihren harten Schwarzweiß-Kontrasten fast kalligrafischen Ästhetik. Ausgehend von den Menschen und der Landschaft seiner mittelitalienischen Heimat verhandeln Giacomellis Bilder stets die Grundfragen der Existenz: Tod und Leben, Glaube und Liebe, das Verhältnis des Menschen zu seinen Wurzeln, die Spuren der Zeit. Das Fotomuseum WestLicht zeigt rund 100 Fotografien aus seinen wichtigsten Serien, von Giacomellis fotografischen Anfängen bis in die 1990er-Jahre. Zu seinen bekanntesten Motiven zählen die Fotografien der Serie Io non ho mani che mi accarezzino il 01_GIACOMELLIvolto (Ich habe keine Hände, die mein Gesicht streicheln, nach einem Gedicht von David Maria Turoldo), 1961-63. Giacomelli beobachtet darin eine Gruppe von Priesteranwärtern bei ihren ausgelassenen Spielen und Albernheiten zwischen dem Ernst der Unterrichtseinheiten. Ein Bild zeigt die jungen Geistlichen, wie sie in ihren Soutanen einen Reigen im Schnee tanzen – ein Moment der Unschuld, dem der Verlust bereits eingeschrieben ist. Der Boden wird in der Aufnahme zu einer rein weißen Fläche ohne jegliche Zeichnung, so dass die Seminaristen als schwarze Silhouetten wie im Nichts zu schweben scheinen. Aus der Zeit gefallen wirken auch die Straßenszenen aus Puglia und Scanno, die Giacomelli Ende der 1950er-Jahre fotografierte.
Beide Serien zeigen eine von der Moderne weitgehend unberührte Dorfgemeinschaft. Das Archaische des ländlichen Lebens, das in Puglia (1958) noch einen eindeutig vitalen Unterton hat, wandelt sich in den schwarz gekleideten Figuren aus Scanno (1957/59) zu einem Bild düsterer Vorsehung. Über mehrere Jahre, von 1954 bis 1983, kehrte Giacomelli immer wieder in das Altersheim, in dem seine Mutter in den Tagen seiner Kindheit gearbeitet hatte, zurück, um dort zu fotografieren. Wie in allen seinen Serien nahm er sich auch bei Verrà la morte e avrà i tuoi occhi (Der Tod wird kommen und deine Augen haben, nach einem Gedicht von Cesare Pavese) Zeit, zu dem Ort und seinen Menschen eine Beziehung aufzubauen. Die Aufnahmen sind geprägt durch einen harschen Realismus gegenüber dem menschlichen Verfall, das Weiß der Abzüge scheint die fragilen Körper geradezu aufzuzehren und bekommt so eine existenzielle Qualität. Gleichzeitig ist Giacomellis Identifikation mit den Heimbewohnern und sein stiller Zorn über das Leiden offensichtlich und so bleiben die Alten in seinem Blick stets geborgen. Giacomellis aus dem Flugzeug geschossene Aufnahmen des Ackerlands um seinen Geburtsort Senigallia schließlich lösen die Felder in malerische Liniengeflechte auf und zeigen die Landschaft als eine vom Menschen und der Zeit gezeichnete. Einerseits Ausdruck eines persönlichen Empfindens, verkörpern diese Bilder zugleich eine klare, kühne und konzeptuell wegweisende Haltung. Giacomellis Kunst ist immer auch ein Aufbegehren gegen die Zumutungen der menschlichen Existenz. Der bitteren Ironie der Vergänglichkeit des Lebens begegnet er mit den Mitteln der Fotografie. Seinem singulären Stil blieb er jenseits fotografischer Moden und Aktualitäten auch in späteren Jahren treu. In den fünf Jahrzehnten seines Schaffens entstand so ein Werk, das in seiner ästhetischen und thematischen Konsistenz seinesgleichen sucht.

Mario Giacomelli wurde 1925 in Senigallia geboren. Die kleine Stadt an der italienischen Adriaküste in der Provinz Ancona blieb bis zu seinem Tod im Jahr 2000 Zentrum seines Lebens. Giacomelli wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Seinen Vater verlor er bereits mit neun Jahren, seine11_GIACOMELLI Mutter arbeitete als Wäscherin in einem Altersheim. Als Dreizehnjähriger verließ er die Schule und begann eine Ausbildung als Drucker. Mit einem Partner eröffnete er nach dem Krieg in Senigallia eine eigene Druckerei. Angeregt durch Fotomagazine und den neorealistischen Film entdeckte er Anfang der 1950er-Jahre die Fotografie für sich und kaufte seine erste Kamera. Im Folgenden beteiligte er sich erfolgreich an einer Reihe von Fotowettbewerben und regionalen Ausstellungen. Wichtige Impulse erhielt er in dieser Zeit durch Giuseppe Cavalli, mit dem er 1954 die Fotogruppe Misa gründete. Im selben Jahr begann er seine Arbeit an Verrà la morte. 1957 unternahm er Reisen nach Scanno und Lourdes, auf denen erste Bilder der gleichnamigen Serien entstanden. Internationale Präsentationen seiner Fotografien – etwa in der von Otto Steinert organisierten Ausstellung Subjektive Fotografie 3, 1959 in Brüssel, auf der photokina in Köln, oder im George Eastman House, Rochester (beide 1963) – machten Giacomelli auch über Italien hinaus bekannt. Eine von John Szarkowski kuratierte Ausstellung am New Yorker MoMA bedeutete für Giacomelli 1964 den endgültigen internationalen Durchbruch. [Foto: © MARIO GIACOMELLI, Westlicht- Ausstellungsdauer bis 9. August 2015]

DAS KUNSTMAGAZIN
KUNSTINVESTOR  Nr. 7
Ausgabe Juli 2015
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