Kommentar: Otto Hans Ressler – Kunst ist Literatur – am Beispiel Franz Wests
Zum Verständnis zeitgenössischer Kunst genügt es meist nicht (und die Kunst von Franz West ist ein gutes Beispiel dafür), eine ästhetische Entscheidung zu treffen, sich zu fragen, ob einem etwas gefällt oder nicht; es braucht ein Wissen um Zusammenhänge im Kunstdiskurs – und ein gutes Stück Bereitschaft, sich einzulassen auf etwas, das unter Umständen auf den ersten Blick nicht unbedingt als Kunst daherkommt. Denn was ist Kunst? Wie lässt sich etwas als Kunst erkennen, wenn es nicht aus einem Bild oder einer Skulptur, sondern beispielsweise aus so genannten „Passstücken“ besteht, also undefinierbaren Formen aus Gips, Papiermaché und Metall, die als Stützen, Prothesen oder Gewächsen an den Körper angelegt werden können? Wie lässt sich etwas als Kunst erkennen, das aus etwas gewöhnungsbedürf-tigen Stühlen, ausgefallenen Beleuchtungskörpern oder kopfähnlichen Gebilden aus Alu-minium mit übergroßen Öffnungen für Mund und Nase besteht? Und worin liegt ihr Wert? Worin besteht der Gewinn an ästhetischem Vergnügen, an Erkenntnis für uns? Wie konnte es dazu gekommen, dass Dinge, die normalerweise keine Kunstmanifestationen sind, im Museum, in der Galerie, in einer Ausstellung, bei einer Auktion dazu werden? Ich denke, dass eine Annäherung an das Werk von Franz West ohne Kenntnis der Intentionen Marcel Duchamps gar nicht möglich ist. Marcel Duchamp war am Anfang seiner Karriere ein kubistischer Maler. 1912 nahm er eine Bewegungsfotografie Etienne Jules Mareys zum Vorbild. Duchamps „Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2“ missfiel jedoch den Chef-theoretikern des Kubismus, das Bild wurde von der Ausstellung des Salons der Unabhängigen zurück-gezogen. Duchamp war sogar der Avantgarde zu avantgardistisch. Das Bild wurde erst 1913 bei der „Armory-Show“ in New York gezeigt, wo es freilich ein imposantes Echo erfuhr. Doch obwohl Duchamp auch finanziell erfolgreich war, entschied er sich, mit dem Malen aufzuhören. Er wollte von Kunst im herkömmlichen Sinn nichts mehr wissen. Er beschäftigte sich mit der Frage, ob ein Künstler jemand sei, der etwas Bestimmtes herstellte, oder jemand, der einen Titel trug. Wenn ein Künstler jemand war, der einen Titel trug, konnte er dann überhaupt noch entscheiden, ob das, was er herstellte, Kunst war, oder wurde es dazu nicht ganz automatisch, eben weil er Künstler war? Die Frage, ob es ihm selbst überhaupt möglich sei, etwas herzustellen, das keine Kunst war, wurde in New York beantwortet. Obwohl Duchamp nichts produzierte, wurde er weiterhin als Künstler wahrgenommen. Aus der Erkenntnis, ein Künstler zu sein, ohne Kunst herstellen zu müssen, zog er den Schluss, Kunst herstellen zu können, ohne im konventionellen Sinn etwas herstellen zu müssen. 1916 präsentierte er in der Galerie Bourgeois eine Schneeschaufel und eine Schreibmaschine. Im Katalog wurden sie als „Two Ready Mades“ geführt. Obwohl das Publikum diese Industrieartikel nicht als Kunst wahrnahm, gilt die Ausstellung heute dennoch als Ausgangspunkt für eine ganz neue Art Kunst. Duchamp bat seine Schwester, zwei in seinem Pariser Atelier befindliche Dinge, das Rad eines Fahrrads und einen Flaschentrockner, mit einem Titel zu beschriften und in seinem Namen zu signieren. Die beiden Gegenstände landeten schließlich auf dem Müll, was ihre nachträgliche Weihe als Kunstwerke freilich nicht verhindert hat. Duchamp beschaffte sich in New York einfach Kopien der beiden Gegenstände; er hatte das institutionelle Gefüge der Kunst durchschaut. Mit seiner allgemeinen Anerkennung als Künstler waren alle Dinge, die von ihm stammten, Kunst. Um was es sich dabei handelte, spielte keine Rolle. Die Entscheidung, ob etwas Kunst war oder nicht, hing vom Aussehen des Kunstobjekts ebenso wenig ab wie von handwerklichen Fähigkeiten. Der entscheidende Akt, mit dem etwas zum Kunstwerk wurde, war also nicht mehr die Herstellung, sondern die Zuweisung einer Geltung. Der Künstler wählt einen Gegenstand aus, betitelt ihn, signiert ihn und präsentiert ihn an einem Ort der Kunst.
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1917 reichte Marcel Duchamp unter dem Pseudonym Richard Mutt ein Urinal aus Keramik, signiert und datiert, für eine Ausstellung der „Society of Independent Artists“ ein. Duchamp saß in der Veranstaltungskommission. Das Urinal löste heftige Diskussionen unter den Organisatoren aus, aber da die Ausstellung juryfrei war, konnte es auch nicht abgelehnt werden. Dennoch fehlte es in der Ausstellung. Duchamp, der sein Pseudonym nicht preisgeben wollte, trat aus Protest aus der Veranstaltungskommission aus. Es steht außer Frage, dass das Urinal als Ready-made anerkannt worden wäre, hätte Duchamp selbst es signiert. Die Ablehnung zeigt freilich, dass selbst dann, wenn zwei Leute dasselbe machen, die Anerkennung als Kunst von der Anerkennung als Künstler abhängt. Duchamp reproduzierte 1951 das Urinal. 1964 gelangte eine Edition von acht nummerierten und signierten Exemplaren in den Handel. Fünfhundert Jahre nach der Durchsetzung des Begriffes „Kunst“ für Malerei und Bildhauerei und der Anerkennung der Maler und Bildhauer als „Künstler“ (womit in der Renaissance das Ziel verfolgt worden war, die handwerklichen Zwänge zu überwinden) kam es zu einer Abschaffung handwerklicher Betätigung überhaupt. Von nun an führte nicht mehr ein als Kunst identifizierter Gegenstand, sondern ein geistiges bzw. institutionell begründetes Verfahren zu Kunst. Mit der Loslösung der Bilder vom Gegenstand und vom Handwerk war Kunst etwas geworden, das ohne erklärende Texte, ohne zugrunde liegende Theorie, nicht mehr verstanden werden konnte. Ohne erklärenden Text ist es unmöglich, das Urinal von Duchamp als Kunst zu erkennen oder zu beurteilen. Ohne erklärenden Text ist es unmöglich zu beurteilen, warum die Stühle Franz Wests Kunst sind. Ohne erklärenden Text steht man ratlos vor seinen „Lemuren“ und „Passstücken“. Die moderne Kunst hat sich – scheinbar – von ästhetischen Kategorien abgekoppelt; sie weist Texten, seien es Theorien, Manifeste oder Erklärungen, eine wesentliche Position im System der Kunst zu; sie reißt sie damit aber unweigerlich auch in den Strudel laufend neuer Unterscheidungen. Denn Kunsttheorien haben im Grunde denselben Stand wie die Werke selbst; sie begleiten sie, sie rechtfertigen ihre Rolle in der Geschichte – und werden irgendwann verworfen und von anderen Theorien abgelöst. Andererseits ist unübersehbar, wie perfekt Theorien und Werke sich wechselseitig einander anpassen. Weil beide Seiten, Künstler und Theoretiker, sich in ihrem Erfolg gegenseitig bestätigen, vertieft sich dieser Gleichklang von Theorie und Werk noch. Und je nachdem, ob sich die Theorie an ästhetischen, formalen, historischen oder politischen Kriterien orientiert, lobt sie „ihre“ Kunst als schön, gut, radikal, revolutionär, kritisch oder interessant. Wo Unterschiede zu anderen Werken nicht mehr in den Werken selbst begründet sind oder nicht mehr deutlich werden, ist ein erklärender Text oder eine bündige Theorie unbedingt nötig. Das führt freilich dazu, dass die Kenntnis der mitgelieferten Theorie bereits für das Verständnis von Kunst gehalten wird oder jedenfalls damit verwechselt werden kann. Die Bei-Texte erhalten auf diese Weise die Bedeutung eines Schlüssels, der ein Werk erschließt – wenn er es denn erschließt. Dieses System erzeugt zwangsläufig einen Kreis von Kennern, nämlich jenen, die den Text gelesen haben und sich mit ihm identifizieren. Selbst wenn die mit dem Kunstwerk mitgelieferte Theorie nicht besonders gut nachvollziehbar ist, ja selbst wenn sie unverständlich auftritt, dient sie der Unterscheidung zwischen Kundigen und Unkundigen. (Böse Zungen unterstellen das ja geradezu als Absicht, und behaupten, genau deshalb würden in den „erklärenden“ Texten so oft komplizierte Formulierungen und unklare Begriffe verwendet. Dies wäre aus dieser Sicht freilich alles eher denn sinnlos: Je unklarer die Kunsttheorien wären, desto stärker vermittelten sie nach innen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und demonstrierten nach außen den Eindruck von Kompetenz. Die Kompliziertheit wäre demnach eine Machtfrage.) Dieser Mechanismus hat jedenfalls zur Folge, dass das Kunstwerk bzw. sein Verständnis in paradoxer Weise auf einer Kommunikation basiert, die komplex, widersprüchlich, undurch-sichtig, ausschließend und esoterisch wirkt. In letzter Konsequenz bedeutet das, dass die Erklärungen wichtiger geworden sind als das, was nach außen das Kunstwerk manifestiert. Es bedeutet, dass die Kunst zu Literatur geworden ist.
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